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Hochbegabt und keiner merkt's - Blog -

Vorband bei ELO oder "Rollator Beethoven"

Vorband bei ELO oder "Rollator Beethoven"

Weißhaarige Fans mit Krücken schieben sich im Oberrang der Arena an mir vorbei zu ihrem Sitzplatz. Der erste Welt-Hit vom Electric Light Orchestra liegt fast 50 Jahre zurück.

Ob irgendjemand wegen Billy Lockett hier ist?

Der junge Vor-Sänger wirkt wie jemand, der sich hat breitschlagen lassen, auf der Goldhochzeit der Großeltern aufzutreten..nur dass es nicht seine eigenen Großeltern sind. Bei seinem Kumpel hat er jetzt jedenfalls was gut. "This is a good one..coming out soon." Schön, dass er es dazu sagt, aber die Großeltern und deren Freunde verstehen leider kein Englisch.

Generationsübergreifende Konzerte können etwas Verbindendes haben..müssen aber nicht.

Wenn mir der Ordner gleich beim Blick auf mein Ticket sagt, dass ich hier beim Sommerfest der Volksmusik bin und nicht bei ELO, wie der gealterte Fan das Electric Light Orchestra berufsjugendlich bespitznamt, würde ich ihm glauben.

Tatsächlich aber bin ich beim Sommerfest der Jugend-Hits aus einem anderen Jahrhundert.

"In this empty house" hat Hit-Qualitäten. Das freut mich für Billy Lockett. Eines Tages wird er vor Leuten seines Alters spielen, die seine Lieder kennen. Seine Stimme hätte es verdient..ein Mann, ein E-Piano vor 20.000 Menschen, die wegen anderer Musiker gekommen sind..Respekt!

"I'll be back for my own concert in Berlin. a lot smaller but as great. I sold 4 tickets so far."

Die Senioren lachen mit..der junge Mann muss wohl etwas Lustiges gesagt haben, wenn auch leider in einer fremden Sprache.

Humor hilft über so manche Goldhochzeit hinweg, vor allem, wenn man Brite ist und so kurz vorm Brexit nochmal in Europa auftreten kann.

Beeindruckend auch wie die Zuschauer seinen kompletten Auftritt überstehen, ohne ein einziges Mal den Katheder wechseln zu müssen. Schön, dass so viele Menschen, die bis 89 nicht die Chance hatten, ELO live zu sehen, nun wenigstens mit 89 die Möglichkeit bekommen.

Es gibt weniger originelle letzte Wünsche, als im Ruhestand in einer 70er-Jahre-Jeans-Jacke aus Plauen "Don't bring ne down" mitzusingen.

In der Pause laufen Songs von George Harrison.

Der ist im Gegensatz zum Publikum schon tot.

Jeff Lynne hat sie produziert genau wie die letzten Beatles-Songs "Real love" und "Free as a bird".

Jeff Lynne produziert schon sehr lange gut gemachte Pop Songs anderer Musiker. Jetzt läuft Roy Orbison..der nächste Tote. Ich hoffe, dass Jeff Lynne gleich selbst zu hören ist.. live..also noch nicht tot.

In der Umbaupause auf dem Pissoir dann dieselbe Herausforderung wie bei jeder Großveranstaltung, ca.60 Sekunden beim Wasser lassen am Urinal gebannt auf das eigene Primäre zu schauen, nicht auf die möglicherweise künstlichen Ausgänge der anderen. Das wäre dann doch zuviel, so kurz bevor man bei "Turm to stone" mitsingen möchte.

Jetzt läuft tatsächlich "Free as a bird" mit John Lennon..müßig zu erwähnen, aber auch er tot..immer noch.

Wie Jeff Lynne Lennons Stimme von einem Demo-Tape mit den damals noch verbliebenen Rest-Beatles zu einem hörbaren Ohrwurm verarbeitet hat, ist schon beeindruckend. Paul McCartney kann das noch selbst und ist heute mit 76 Jahren nach 36 Jahren zum ersten Mal wieder auf Platz 1 der US-Album-Charts mit "Egypt Station". Das wird mein nächstes Nostalgie-Konzert, allerdings in Krakau, hier spielt er nicht. Vielleicht ist ihm das Publikum im Berliner Osten zu alt. Die Arena mit dem Automobil-Stern ist der Jurassic Park der deutschen Konzertlandschaft..zumindest heute Abend.

Schon nach 21.00 und immer noch Soundcheck für ELO. Die rüstigen Rentner werden allmählich unruhig.

Noch ein Tondokument eines Verstorbenen von Band und der erste beigefarbene Blouson fliegt Richtung Bühne. Die erste Krücke zumindest wird schon in die Luft gereckt..velleicht auch nur als Zeichen für den Rest der Senioren-Reisegruppe aus Plauen.

Wieder ein Song von George Harrison..statt pietätvollem Lauschen erste Unmuts-Pfiffe, trotz dritter Zähne laut und unfallfrei intoniert.

"I got my mind set on you". Ich richte mein Augenmerk auf die immer lauter pfeifenden Senioren und sehe, dass es sich dabei um mitgebrachte Enkel handelt.

George Harrison erklärt "It takes some time". Wenn die Zuschauer Englisch könnten, wären sie noch stärker beunruhigt. Um 21.00 beginnt bei angesagten Bands in einer Weltstadt normalerweise der Einlass.Hier werden alle unruhig, weil um diese Zeit normalerweise die Nachtschwester reinkommt und das Licht löscht.

Wenn im Konzertsaal das Licht ausgeht, ist der Tag nicht vorbei sondern geht erst so richtig los.

Aber wer will schon im Anschluss ans Konzert den letzten Bus ins Vogtland verpassen.

Die Travelling Wilburys..Roy Orbison singt "Everything you want you got it" und tatsächlich, das Konzert beginnt. Streicher..Klavier...Intro von "Standing in the rain"..nicht von Band, der Sänger bewegt sich. Erleichterung macht sich breit. Dann " Evil woman", da singen auch die Damen aus Plauen mit. Sie waren auch mal böse Mädchen. Die Frau neben mir wird regelrecht ekstatisch, sie merkt, dass sie den Bus doch noch kriegen könnte..vorher wird gerockt.

Jeff begrüßt die Anwesenden:"It's great to be back in Berlin and thanks for coming!"

Die Frauen aus Plauen werden heute noch häufiger kommen, wie es aussieht.

"All over the world" und alle klatschen rhythmisch mit wie beim Sommerfest in der ARD. Carmen Nebel hätte Tränen in den Augen.

Bei alten Hits geht es nicht darum, ob sie musikalisch besser gemacht sind als neue Hits. Es geht darum, was man seit seiner Jugendzeit mit ihnen assoziiert. Es sind die Erinnerungen an die Zeit, als das größte sexuelle Erlebnis das Engtanzen auf der Klassenparty war. Eine herrlich unschuldige und doch abenteuerreiche Zeit, in der man für Konzerttickets noch keinen Dispokredit brauchte. "Give me one more love, one more kiss"..Die Frau neben mir denkt an ihren ersten Kuss mit ihrer ersten großen Liebe zurück und küsst dann besonders leidenschaftlich den Ehemann an Ihrer grünen Seite im Wissen,
es könnte der Letzte sein.

"When I was a boy" könnte ein unveröffentlichter Song der Beatles sein, produziert von Jeff Lynne. Seine Stimme klingt fester als die von Paul McCartney auch ohne Nr.1-Album..dabei ist er nur wenige Jahre jünger als der noch lebende Ex-Beatle.

Weiter geht's mit einer Teufelsgeigerin zum Intro, dann der Gesang:"Its a living thing, it's a terrible thing to loose"..das denkt sich wohl auch Paul McCartney und geht nochmal auf Tour, bevor die Stimme gänzlich versagt.

Dann ein Song der Travelling Wilburys: "Everbody needs somebidy to lean on". Roy Orbison kann nicht mehr selber singen, 
aber der junge Mann aus der Band macht das auch ganz gut. Die Frauen aus Plauen schauen ihre Männer fragend an, das Lied kannten sie noch nicht.

"Midnight over the water", so spät ist es glücklicherweise noch nicht, sonst wär der Bus schon weg.

Für Jeff Lynne ist der Zug mit 70 noch nicht abgefahren:toller Sound, Top Musiker, er als einziger aus der Originalbesetzung..man ist ja heutzutage froh, wenn zumindest der Sänger noch lebt. Der Rest wird ausgetauscht durch Jüngere..außer im Publikum.

"I can't get her out of my head". Jeff bleibt noch. Ein älterer Zuschauer direkt vor mir im Led-Zeppelin-Shirt hingegen steht auf und will den Saal verlassen. Er wartet seit einer Stunde vergeblich auf "Stairway to heaven". Ich rate ihm, die Zugabe abzuwarten. Vielleicht hat Jeff den Song ja auch produziert.

Irgendwann hat man früher Musik gemacht, weil die unzähligen Songideen hinaus mussten in die Welt, um gehört zu werden. Wenn man das so erfolgreich gemacht hat wie Jeff Lynne, spielt man mit 70 immer noch dieselben Lieder für Fans, die ihr Erinnerungsvermögen noch nicht verloren haben. Oder für Leute wie mich, die bei "Out of the blue" noch zu jung waren, um zum ELO-Konzert zu fahren ohne Führerschein, ohne ausreichend Taschengeld und ohne Reisegruppe aus Plauen, die mich im Tausch gegen eine West-Jeans heimlich mitgenommen hätte.

"Wild west heroe", das singt Zehlendorf etwas lauter mit als Köpenick und ich kann nach fast 40 Jahren noch den Text komplett mitsummen. "Sweet talkin woman", das hat zu den Frauen aus Sachsen noch nie jemand gesagt, umso fröhlicher schütteln sie das toupierte Haupthaar.

Wieder wird sommerfestlich mitgeklatscht und die Carmen-Nebel-Granaten sorgen auf der Bühne für schöne Effekte.

Überhaupt eine wunderbare Lichtshow, für die vor 40 Jahren in der Zeit vor Moving Lights und LEDs noch unzählige Sattelschlepper unterwegs waren. Dafür brauchten die Fans damals noch keine Busse, was für die Umweltbilanz auf's selbe rauskommt.

Jetzt der Song, auf den alle gewartet haben: "Dont bring me down". Bei Mal Sandocks Hitparade im WDR war er damals 70 Wochen in den Top Ten..ein Dauerbrenner bis heute. Atemlos lauschen wir direkt danach im Rausch der Ohrwürmer "Turn to stone". Der Jeff hat schon 'ne Menge Hits geschrieben, die jährliche GEMA-Abrechnung könnte ein komplettes Musikstudium finanzieren.

Das Beste hat er sich für den Schluss aufgehoben, meinen Favoriten "Mr. Blue Sky". Deswegen bin ich heute hier und er spielt ihn nach den Gassenhauern als krönenden Abschluss.

Nach frenetischem Schlussapplaus mit unkontrollierten Armbewegungen, die hoffentlich durch die Pflegeversicherung abgedeckt sind, spielt er für den Led Zeppelin-Fan noch einen Rock-Song: "Roll over Beethoven". Der Song wird nächstes Jahr 50.

Der Hardrock-Fan hat die 50 schon lange hinter sich und gibt endgültig auf.

Reine Netto-Spielzeit dieser Zeitreise waren nur 90min., keine weitere Verlängerung, kein Elfmeterschießen, aber irgendwie müssen die Leute ja auch noch nach Hause.

Der Busfahrer tritt auf dem Parkplatz die letzte Zigarette aus, Plauen drängt auf die Rolltreppen. Ich ströme mit den grauen Panthern raus und singe leise vor mich hin "Rollator Beethoven". Nicht alle sind mit dem Bus gekommen, die meisten Kennzeichen vor der Arena haben drei Buchstaben, müssen also noch in ein anderes Bundesland gefahren werden.

An der Eastside Gallery spielen zwei ältere Männer mit langen Haaren Gitarre. Wieder kein "Stairway to heaven", aber der Led-Zeppelin-Fan ist ohnehin schon auf dem Rückweg nach Hohenschönhausen. Beim Berlin-Klassiker "All in all it's just another brick in the wall" bricht mir beim Biss in ein Börek das letzte Stück einer kaputten Krone ab. Irgendwie passe ich doch hier hin. Aus Trotz singe ich auf dem Weg zum Ostbahnhof old and angry "Wild west heroe" und freue mich auf die nächste Goldhochzeit.